Memorandum für einen namenlosen Biker.

 

Es war ein warmer Tag, einer der ersten wirklich warmen Tage des Jahres. In die Sonne blinzelnd stand ich auf dem auf dem Dach des Krankenhauses und bedauerte, nicht mit meinen Kindern am See zu sein oder ein Picknick irgendwo anders im Freien veranstalten zu können. Stattdessen stand ich auf einem geteerten Dach und musste mich damit begnügen meinen Gedanken nachzuhängen. Letztere jedoch sind frei, und so ließ ich sie ungezügelt auf Reisen gehen, bis ein eindringliches unüberhörbares Beep-Geräusch mich zusammenzucken ließ. Die Wirklichkeit holte mich ein. Ich hatte Dienst und offensichtlich sollte er nicht ungestört verlaufen.

Ziemlich flink, und ohne Hoffnung, dass es sich nur um ein kleines Anliegen handeln würde, dafür hatte der Beep zu eindringlich getönt, verließ ich meinen Posten um das nächste Telephon zu erreichen. Soweit jedoch, sollte ich gar nicht kommen. Im großen Flur stieß ich auf die Ereignisse, oder besser, sie stießen auf mich. Einige Sanitäter schoben eiligen Schrittes eine Bahre in Richtung Operationssaal. Zwei Ärzte tauschten hektisch Informationen aus, während der eine von beiden zeitgleich Anweisungen erteilte. Sensationsgierige Patienten, soweit sie des Gehens mächtig waren, strömten auf den Korridor.

Ohne die Szene eines weiteren Blickes zu würdigen rannte ich an ihr vorbei, um die Zeit einzuholen. Die Zeit, die man braucht um alle nötigen Vorbereitungen zu treffen. Mit fliegenden Händen richtete ich das Notwendigste. Als ich mich zum erstenmal umsah, sah ich in das Gesicht eines jungen Bikers. Dort wo die Augen hätten sein sollen befanden sich zwei riesengroße Hügel, verkrustet von Tränenflüssigkeit, das Blut rann aus einer Kopfwunde und die Nase war unnatürlich verschoben. Aus den geschwollenen Lippen führte inzwischen ein Beatmungsschlauch. Es hätte das Gesicht eines 19jährigen sein müssen, aber da war nichts  mehr, was einem jungen Mann gerecht wird. Zwischen seinen Beinen lag ein schwarzer Helm. Irgendwoher schnappte ich das Wort „Schere“ auf. Wie in Trance griff ich nach einer Schere und begann diesen Menschen, der eigentlich am Anfang seines Lebens stand, aus seiner Motorradkluft zu schneiden. Ich hasse es, Menschen aus ihrer Kleidung zu schneiden, genauso, wie ich es hasse Kinder festzuhalten. Man ist gezwungen in die intimste Sphäre einzudringen, scheint zum Vergewaltiger zu werden, zum Täter.

´Kleiner dummer Junge, wie lang hast du dafür gespart, Dir die Lederkluft zu kaufen, und nun mache ich alles mit einem Handstreich kaputt. Ist es Dein Liebligsshirt, was ich da grad zerschneide? Trägt es zwischen dem Gestank von Asphalt und Schmutz noch den Duft Deiner Freundin? Welche Bedeutung haben die Ringe, die ich Dir mit Hilfe eines Fadens vom Finger zwirble, sind sie Erinnerungsstücke an deine Touren? ´

Als ich ihm die Hose und Unterwäsche zerschneide kommt mir der Gedanke an Sex…

´Weißt du wie es ist Sex zu haben oder wirst du sterben ohne je Ambrosia zu kosten? Du bist noch so jung, ein Kind beinahe. Wer hat Dein Muttermal am Knie geliebt, das aussieht wie ein abnehmender Halbmond?´

Als ich seine Hose zur Seite werfe, fällt ein Schlüsselbund aus der Tasche.

Mit diesem Schlüssel hätte er heute Abend die Wohnungstür öffnen sollen, um dann den Helm an die Garderobe zu hängen und zu sagen: Hallo, da bin ich wieder…`stattdessen liegst Du nun hier und ringst mit dem Tod`

Zeitlupe und Zeitraffer wechselten einander ab. Die Chirurgen hatten inzwischen den Kopf trepaniert um das Hirn zu entlasten. Ein Blick genügte um zu er kennen, das der Sauger mehr als nur Blut und Wasser aufnahm. Jede Hoffnung darauf, er könnte wieder je wieder auf ein Motorrad steigen war dahin. Der Kreislauf des Jungen versagte und wir kämpften um etwas… jemanden… für den es kein Zurück mehr gab, als ein markerschütternder Schrei, scheinbar tierischen Ursprungs den Raum zerriss. Noch nie zuvor und je wieder danach habe ich einen vergleichbaren Schrei gehört.

Bevor ich begriff, woher dieser Schrei kam, wurde ich zu Seite geschleudert und eine Frau warf sich verzweifelt auf den sterbenden Motorradfahrer., bettelnd um sein Leben. In der Türfüllung stand ein Mann, stumm und mit versteinertem Blick. Vermutlich beobachtete er mit eben diesem Blick das Geschehen; die einen, die um das Leben seines Sohnes rangen und die anderen, die seine Frau zu bändigen versuchten, die wie ein wildes Tier um sich schlug, schrie und nur mittels hochdosierter Medikamente in eine vorübergehende Lethargie des Vergessens zu bringen gelang. Bis zum nächsten Erwachen.

War es nun eine Feststellung oder eine Frage, als er seine Lippen bewegte:

“Er ist tot“. Ein Arzt nickte.
Die Maschienerie des letzten Weges setzte sich in Gang.
Noch tagelang lag das Vermächtnis eines 19jährigen Bikers, ordentlich zu einem Päckchen verschnürt auf einem Stuhl. Obenauf der Helm. Zeugnis eines Unfalls, von dem niemand weiß wie er passierte. Zerbrochene Träume, das grausame Ende eines Rausches, unerfüllte Wünsche und die Sehnsucht nach Freiheit.

Ich hatte nicht gewagt das Bündel zu entsorgen. Eines anderen Tages war es verschwunden.
Das war vor 15 Jahren.

 

Requiescat in Pace

Ich kenne den Namen des Bikers nicht, aber diesen Tag vergesse ich nicht.

 

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K.Siwik)

 

 

 

 

 

 

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